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Ad-hoc-Arbeitsgruppe Zukunftswerte

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Themenfeld Multikulturalität und Identität – „Wir und die Anderen“

Die Begriffe Multikulturalität und Identität sind Schlagworte, die der gesellschaftlichen Diskussion entnommen wurden, so dass heute jeder versteht, für welche Wertvorstellungen sie stehen. „Multikulti“ versus „Identität“ (bis hin zur „identitären Bewegung“) sind in Zeiten einer Krise, die durch soziale Medien, Beeinflussungsmöglichkeiten durch KI und Populismen aufgebracht wurde, in ein Spannungsverhältnis geraten. Beide Begriffe stehen für Haltungen, die mit den jeweils entgegengesetzten bestenfalls im Wettbewerb, häufiger im Konflikt stehen. In den Kulturwissenschaften ist ein systematisches Spannungsverhältnis von Multikulturalität und Identität keineswegs etablierter Forschungsgegenstand. Dennoch ist es sinnvoll, das gesellschaftliche Feld, das durch sie – wenn auch ungenau, vielfach von Affekten besetzt – ausgemessen wird, genauer zu untersuchen. Beide Begriffe werden als problematisch betrachtet, und das Spannungsverhältnis, in das sie geraten sind, wird als historisch, vor allem zeitgeschichtlich zu erforschen, nicht als unausweichlich, überhistorisch bestehend untersucht.

Die Arbeitsgruppe leuchtet das Spannungsfeld von Multikulturalität und Identität derzeit in einem ersten Schritt durch die historisch-kritische Klärung von Schlüsselbegriffen im Rahmen weiterer Begriffsfelder aus. Werte, für die Geltung beansprucht werden soll, werden im Verhältnis zu moralisch-politischer Orientierung, Menschenrechten, Begründungen und Legitimationen, aber auch zu bloßen, oft fragwürdigen Wertvorstellungen betrachtet. Multikulturalität wird im Rahmen von Konzepten wie Globalisierung bzw. weltweiter Vernetzung, soziale Ungleichheit (auch aufgrund von Modernisierungsfolgen) und globale Machtgefälle, Post- und Dekolonialismus bestimmt. Identität wird im Rahmen von Konzepten der Subjektivierung – zwischen Disziplinierung und der Erschließung von Freiheitsräumen – und der Beherrschung unterschiedlicher Verhaltenscodices und Rollenkompetenzen (Intersektionalität) betrachtet.

Auf der Grundlage der Begriffsklärung sollen in einem zweiten Schritt einschlägige Forschungsdebatten rekonstruiert werden, die in den vergangenen Jahren in den beteiligten Geistes- und Sozialwissenschaften geführt worden sind. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Infragestellung wie auch der Etablierung von Standards, auch mit Blick auf die Herausforderungen, die sich (wie derzeit die Covid-19-Pandemie) an eine globalisierte Weltgesellschaft richten.

Von dort aus werden in einem dritten Schritt Forschungen zu signifikanten, in besonderer Weise symptomatischen Phänomenen vorgestellt – zu Fragen, die in einem dritten Schritt festgelegt werden.

Videogespräche

siehe Videos

1. Multikulturalität – Identität und Co: Schlüsselbegriffe

Wichtige Aspekte der Debatte um das Spannungsfeld von Multikulturalität und Identität werden mit Schlüsselbegriffen erfasst. In Gesellschaften, in denen vielschichtige Identitäten und multikulturelle Prägung sich nicht auf eine einfache Formel bringen lassen, wird beispielsweise über den Begriff der Nation heftig gestritten. Die einen betrachten das Modell der homogenen, auf ihrem Territorium geeinten Sprachnation als Norm; verschiedene Identitätskulturen sehen sie als Bedrohung für deren Kohärenz. Andere sehen das Subjekt in die „Identitätsfalle“ (Amartya Sen) gedrängt, wenn vielfältige oder abweichende Prägungen nicht akzeptiert werden. Sie fordern, dass auch in der Erinnerungskultur heterogene Bevölkerungsgruppen ihren Anteil an der historischen Prägung des gesellschaftlichen Zusammenhalts respektiert sehen. Schlüsselbegriffe sind neben der Nation zudem diasporische, über verschiedene Territorien und Kulturen verteilte Identitäten, sowie die Multikulturalität im Singular, die oft auch in der Biografie einer einzelnen Persönlichkeit fassbar wird.

2. Identität im Plural: Migrationspolitiken im Vergleich

In erhitzten, affektiv aufgeladenen Debatten wird oft davon ausgegangen, dass Migration – vor allem Einwanderung – ein junges, ganz auf die jeweilige Gegenwart beschränktes Phänomen ist. Die historische Entwicklung zeigt allerdings, dass die Gesellschaften Europas ebenso auf eine lange Konfliktgeschichte wie auf staunenswerte Integrationsleistungen zurückschauen. Der vergleichende Blick verdeutlicht zudem, dass die europäische Migration jenseits nationaler Besonderheiten während verschiedener Perioden Gemeinsamkeiten aufweist. Bis zur Ölkrise 1973 verdankten die besonders prosperierenden Industrienationen ihren wirtschaftlichen Aufstieg zu einem Gutteil transnationaler Migration, teils, wie in Deutschland, auch der gezielten Anwerbung von Arbeitskräften. Nach dem Boom waren viele Arbeitsmigrierende, die man in Deutschland als „Gastarbeiter“ bezeichnete, damit konfrontiert, dass sie angesichts steigender Arbeitslosigkeit nicht mehr erwünscht waren. Ihre kulturelle, auch religiöse Diversität wurde zum Motiv von Vorbehalten ebenso wie zum oft zentralen Identitätsmerkmal. Nach 1989 kamen neue Bewegungen – mittlerweile in postindustrielle, dezentralistisch organisierte Arbeitsmärkte hinzu – nicht nur aus Ost- und Südosteuropa, sondern auch aus außereuropäischen Ländern. Im Vergleich zwischen Frankreich, Deutschland und Italien, das erst verspätet, nach 1989, zu einem Land mit einem hohen Anteil an zugewanderter Bevölkerung wurde, werden die Besonderheiten, aber auch erstaunliche Parallelen von Entwicklungen fassbar, die unsere Gesellschaften bis heute prägen.

3. Globale Kultur – europäische Wahrnehmung

Dialog, aber auch der Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit sind die Pole, zwischen denen das Spannungsfeld von multipler Prägung und dem Anspruch auf Anerkennung einer je spezifischen Identität durchmessen wird. Beispiele für Dialogizität und Agonalität finden sich in der Literatur aus Ländern der Südsahara und der Demokratischen Republik Kongo – sowie von europäischen Autorinnen und Autoren, die mit diesen verbunden sind. Wie erleben Kinder, die in Europa aufwachsen, eine von Vorbehalten und Vorurteilen geprägte Umgebung – auch im Unterschied z.B. zu ihren afrikanischen Eltern, die ihre Kindheit im Herkunftsland verbringen konnten? Wie pflegen und bewahren diasporische Gruppen aus ehemaligen Kolonien ihre Kulturen, ohne sich dadurch der Kultur in den aufnehmenden Nationen, die ihre früheren Imperien verloren haben, zu verschließen? Konflikte um Kultur und Wahrnehmung zeigen sich auch in der im Frühjahr 2022 geführten Kontroverse über das Humboldt-Forum im wiedererrichteten Berliner Stadtschloss. Im Bauwerk, dass Berlin erst wieder als preußische Residenzstadt erlebbar macht, wird seit Kurzem außereuropäische Kunst und Kultur gezeigt. Ursprünglich war dies als Zeichen der Weltoffenheit einer dennoch traditionsbewussten Hauptstadt gemeint. Doch brachte die Forderung nach der Rückgabe von Kunst, die während des Kolonialismus des 19. Jahrhunderts geraubt wurde, das idealistische Projekt in Misskredit. Um in der festgefahrenen Debatte wieder einen „Denkraum der Besonnenheit“ (Aby Warburg) zu schaffen, wird auf die Geschichte der Idee von Universalmuseen seit dem 19. Jahrhundert in Berlin zurückgeblickt.